PORTRÄT UND INTERVIEW

Im Gespräch mit ... Dieter de Vos

Neutelings Riedijk Architects

Foto: Daria Scagliola

Stadt und Ornament

  • Text: Marie Bruun Yde
  • Fotos: Daria Scagliola, Tim Fisher

Gebäude von Neutelings Riedijk Architects zeichnen Gesichter. Der dekorative Stil des niederländischen Architekturbüros befördert in spezieller Form die Identifikationsbildung der Bewohnerinnen und Bewohnern zu ihrer Stadt und ihrem Viertel.

Architektur von Neutelings Riedijk Architects ist anders. Im Gegensatz zu vielen gesichtslosen Bauten der Gegenwart hat das Büro seine eigene Ästhetik entwickelt. Obwohl diese heute nicht mehr ganz so comicstyle-idiosynkratisch wie vor 25 Jahren ist – erinnert sei hier beispielsweise an das Minnaert Gebäude auf dem Universitätscampus in Utrecht mit den rosaroten Schlüssellochsitznischen oder an die Betonbunker-Post in Scherpenheuvel-Zichem in Belgien – bleibt heute immer noch eine anthropomorphe Skulpturalität. Inzwischen haben sie ihren Stil perfektioniert, die Architektur wirkt kraftvoller, die Vielfalt ist gewachsen. „Plain weirdness“ hat der amerikanische Architekturkritiker Aaron Betsky diese Ausdrucksform genannt: schlichte Merkwürdigkeit. Die Fassaden haben maskenhafte Qualitäten, meint er, die abstrakt und übertrieben darstellen, was sie beherbergen.

Neutelings Riedijk wurde 1987 von Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk in Rotterdam gegründet. Das Büro ist ein OMA-Offspring, Willem Jan Neutelings gehört zur gleichen Generation wie Winy Maas, ist ein paar Jahre jünger als Kees Christiaanse und Matthias Sauerbruch. Seit 2020 wird das Büro von Michiel Riedijk und Geschäftsführer Carl Meeusen geleitet. Das Portfolio umfasst Museen, Bibliotheken, Theater, Konzerthallen und Wissensgebäude, aber auch Wohnhäuser, Büros und Hotels, am liebsten jedoch scheinen die Architekten Kulturgebäude zu entwerfen. Highlights sind Gebäude wie das spiralförmige Museum aan de Stroom in Antwerpen von 2010 oder das gestapelte Naturalis Biodiversity Center in Leiden von 2019, die beide so edel, erhaben und musikalisch gestaltet sind, dass sie wie moderne Kathedralen erscheinen.

Die meisten Gebäude stehen in den Niederlanden, einige in Belgien. 2017 war das Herman Teirlinck Gebäude, das die flämische Regierung beherbergt, auf dem Tour & Taxis-Gelände fertig. Einige Elemente wie die fliegenden Treppen finden sich in der benachbarten Gare Maritime wieder. Dieses Jahr wurden Neutelings Riedijk für das Neue Amsterdam Museum beauftragt. Der Entwurf transformiert ein altes Kloster und Waisenhaus im Zentrum der niederländischen Hauptstadt zum neuen Museum. Formal haben die Architekten etwas anderes gemacht als den rechtwinkligen holländischen Minimalismus, den Architekturbüros wie Wiel Arets oder Claus en Kaan repräsentierten. Rock’n’Roll-90er, aber mit eigenem Schwerpunkt. Die Gebäude sind massiv, wirken schwer, spielerisch und immer anders als alles, was man bisher gesehen hat. Neutelings Riedijk Architects betonen dennoch immer, dass sie keine Kunst machen. Sie erfinden nicht ihre Arbeit, sondern lösen gestellte Aufgaben, wofür sie ab und an Künstlerinnen hinzuziehen.

2018 erschien das Buch „Ornament and Identity“. Das Ornament ist eine Figur, die sich vom kleinsten Detail bis zum großen Ganzen durchzieht. Im kleinen Maßstab kann es eine in Beton gegossene Rosette wie beim Kulturzentrum Rozet in Arnheim von 2013 sein. Im großen Maßstab werden beispielsweise ganze Gebäudeabschnitte wiederholt wie bei der Gare Maritime oder dem Wohnhaus-Projekt Die Sphingen in Huizen von 2003, in dem fünf identische fährenähnliche Gebäudekörper aneinandergereiht im Wasser liegen. Aus den Silhouetten entstehe Muster. Nach der Devise „Ornament schafft Identität“ bedienen sie sich der Dekoration. Damit ermöglichen Neutelings Riedijk eine spezielle Beziehung zwischen Menschen und Architektur. Diese entsteht durch das sinnliche Erlebnis, das auf der Qualität der Materialien, dem Grad der Detaillierung, der Taktilität beruht. Zusammen bilden diese Gestaltungselemente Persönlichkeit und Identifikation, die schließlich eine erkennbare Adresse bilden. Dabei schreiben die Entwürfe den lokalen Ort immer fort, ragen aber gleichzeitig skurril darüber hinaus.

Im Gespräch mit … Dieter de Vos

Einen Bahnhof zum Stadtteil umzuwandeln ist keine gewöhnliche Aufgabe. Die Gare Maritime ist eigentlich ein Ausbauprojekt, hat aber einen städtebaulichen Maßstab. Im Interview spricht Dieter de Vos, Projektleiter und zuständig für die Aufgaben von Neutelings Riedijk Architects in Belgien, über das Bauen im Bestand, den öffentlichen Raum und den nachhaltigen Umgang mit Architektur.

Marie Bruun Yde: Die schiere Größe der Gare Maritime ist einfach überwältigend. Wie haben Sie sich mit den Dimensionen und der historischen Struktur auseinandergesetzt?

Dieter de Vos: Wir haben uns bei unserem Entwurf von zwei wichtigen Elementen leiten lassen: Erstens das fantastische Dach des alten Güterbahnhofs vom Beginn des 20. Jahrhunderts, das wir so weit wie möglich sichtbar erhalten wollten. Es misst 140 Meter mal 280 Meter. Unter diesem Dach mussten wir 45.000 Quadratmeter Baukörper für Büros und Geschäfte errichten, wobei die Monumentalität des Daches erhalten bleiben sollte. Zweitens wollten wir erreichen, dass die Gare Maritime Teil der Stadt und des Stadtgefüges wird. Dies ist uns gelungen, indem wir den Raum nicht vollständig ausgefüllt haben, sondern stattdessen urbane Elemente wie eine große Plaza in der Mitte, kleine Straßen, große Straßen, kleine Plätze und größere Plätze geschaffen haben.

„eine überdachte Stadt, in der es nie regnet“

Dieter de Vos

Die Gebäude von Neutelings Riedijk sind oft expressiv. Würden Sie sagen, dass dies ein eher zurückhaltender Entwurf ist?

Wir wollten, dass unsere Intervention hinter den bestehenden Raum zurücktritt. Drei der sieben Dächer des historischen Gebäudes wurden so belassen, wie sie sind. Das Design der neuen Baukörper ist minimal und schlicht, nimmt aber Bezug auf die Art-déco-Details des bestehenden Bauwerks, indem es die Balustraden und Fenster feiner ausgestaltet und die Treppenhäuser über den Straßen im Inneren schweben lässt. Das Projekt ist das Ergebnis dieses Dialogs zwischen dem Alten und dem Neuen, sodass es als ein Ganzes, als ein Ensemble, funktioniert.

Und die Konzeption von öffentlichen Räumen war eine Strategie, um die Gare Maritime in die Stadt zu integrieren?

Wir haben sie als eine überdachte Stadt gestaltet, in der es nie regnet, mit Grünanlagen und kleinen Läden. Es ist schon außergewöhnlich, einen so großen Raum zu haben, der vor der Witterung geschützt ist. Gerade diese markante, leere Halle in der Mitte ist es, die das Gebäude ausmacht und die breite Öffentlichkeit anspricht. Sie kann verschiedene Funktionen aufnehmen und wird hoffentlich mit öffentlichen Veranstaltungen wie Weihnachtsmärkten oder Musikfestivals zur Belebung der Stadt Brüssel beitragen.

Was sieht der Entwurf für die überdachte Stadt namens Gare Maritime vor?

Es gibt zwölf Pavillons, die wie die Bausteine einer Stadt angeordnet sind. Zehn größere Pavillons befinden sich an den Längsseiten des Daches, zwei kleinere an der Querseite. Sie haben alle die gleiche Größe, etwa 4.500 Quadratmeter. Die Pavillons sind in das Tragwerk des bestehenden Daches eingefügt, sodass die alten Stahlstützen sichtbar bleiben. Alle Pavillons sind Solitäre und völlig losgelöst vom Fundament, der Fassade und dem Dach. Es gibt keine Verbindungspunkte mit der bestehenden Struktur. Und sie sind komplett aus Holz. Früher galt die Gare Maritime als größter Bahnhof für Güterwaren in Europa, nun gilt sie durch die neue Transformation als europaweit größtes Projekt in Brettsperrholz.

Warum haben Sie mit Holz gearbeitet?

Dies war eine ästhetische und technische Entscheidung. Wir haben uns für Holz als Material entschieden, um Details zu entwerfen, die sowohl den baulichen Erfordernissen entsprechen als auch eine eigene Identität und einen eigenen Charakter schaffen. Das Tragwerk besteht aus CLT, also Brettsperrholz, was verschiedene Vorteile hat. Zum einen das geringe Gewicht des Holzes, was bedeutet, dass die neuen Baukörper das bestehende Fundament nicht belasten, wie es bei Stahl oder Beton der Fall gewesen wäre. Zum anderen konnte durch die vorgefertigten CLT-Elemente ein rückbaubares System geschaffen werden.

… was Ihr Konzept der Kreislauffähigkeit unterstützt und Energie spart…

Dank des Baukastenprinzips konnten wir das Projekt ohne Kran entwickeln, was innerhalb des bestehenden Gebäudes ohnehin nicht möglich gewesen wäre. Stattdessen konnten wir vom Boden aus neu bauen. Die Holzhäuser können demontiert werden, und das gesamte Gebäude bleibt intakt. Das schafft Flexibilität. Der Auftraggeber wollte, dass wir ein besonderes Augenmerk auf Nachhaltigkeit legen. Durch die Holzbauweise konnten wir ein energieneutrales und CO2-neutrales Gebäude realisieren.

Wie verhält sich das Material Holz ästhetisch zu dem bestehenden Gebäude?

Neben der tragenden Holzstruktur der neuen Pavillons sind die Fassaden zwischen dem beheizten Raum im Inneren der Pavillons und dem unbeheizten Raum unter dem Bahnhofsdach außerhalb der Pavillons aus Furnierschichtholz in Eiche gearbeitet. Dadurch entsteht eine faszinierende Komplementarität zwischen der markanten Ziegel- und Stahlstruktur des Bahnhofsgebäudes aus dem frühen 20. Jahrhundert und den Holzmaterialien der modernen Pavillons: die Komplementarität von Farbe, Textur, Oberflächenbehandlung und Haptik der glatten, genieteten Stahlkonstruktion als Kontrast zur Maserung des geölten Holzes. Im Übrigen war diese Komplementarität bereits teilweise im Gebäude vorhanden, etwa durch die hölzernen Dachplanken des ursprünglichen Gebäudes.

Bei der Gare Maritime gibt es weder wirklich ein Innen noch ein Außen. Welche Gedanken erwogen Sie zu dieser Raumwirkung?

Der Unterschied zwischen innen und außen ist bei den Pavillons nicht so groß wie zwischen einem tatsächlichen Innen- und Außenbereich. Mit der Gestaltung und der Wahl der Materialien wollten wir erreichen, dass sich die Gare Maritime wie ein Außenraum mit richtigen Fassaden anfühlt. Wir haben uns außerdem bewusst für Holzfassaden entschieden, weil sie hier weder Regen, Wind noch Sonne ausgesetzt sind. Dadurch konnten wir gewisse Feinheiten bei der Gestaltung der Details erreichen. Das Gebäude befindet sich auf dem Tour & Taxis-Gelände, einem großen ehemaligen Industriegebiet.

„Durch die Holzbauweise konnten wir ein energieneutrales und CO2-neutrales Gebäude realisieren.“

Dieter de Vos

Welche Erwartungen hatte die Öffentlichkeit an das Projekt?

Die Lage des Tour & Taxis-Geländes ist nicht als attraktivste Gegend von Brüssel bekannt. Die Erwartungen an die Gare Maritime waren hoch: Sie sollte nicht nur den Gentrifizierungsprozess vorantreiben, sondern auch die Quartiersentwicklung und letztendlich die Stadtentwicklung befördern. Für die Anwohner ist ein nobles oder schickes Angebot weniger relevant als die Schaffung von Offenheit, Atmosphäre und eine Präsenz als Teil des Stadtgefüges.

Architekten

Neutelings Riedijk Architects

www.neutelings-riedijk.com

Weena 723 – C6.070, 3013 AM Rotterdam

Neutelings Riedijk Architects ist ein führendes internationales Architekturbüro mit Sitz in Rotterdam, Niederlande. Das Büro ist auf den Entwurf komplexer Projekte für öffentliche, kommerzielle und kulturelle Gebäude spezialisiert. Neutelings Riedijk Architects wurde 1987 von Willem Jan Neutelings und Michiel Riedijk gegründet. Seit 2020 wird das Büro von dem leitenden Architekten Michiel Riedijk und dem Geschäftsführer Carl Meeusen geführt. Ihre Architektur setzt auf zeitgenössische Ornamente und eine Ausdrucksstärke, die neue lokale Identitäten schafft.

Projekte (Auswahl)

2019 Naturalis Biodiversity Center, Leiden
2017 Heirman Teirlink Building, Brüssel
2010 City History Museum MAS, Antwerpen

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