PROJEKTREPORTAGE

Gare Maritime, Brüssel

Neutelings Riedijk Architects, Rotterdam

Foto: Sarah Blee

Die Chance der stillgelegten Gleise

  • Text: Marie Bruun Yde, Therese Mausbach
  • Fotos: Tim Fisher, Sarah Blee

Der ehemalige Güterbahnhof am Kanal von Brüssel wurde von den niederländischen Architekten Neutelings Riedijk saniert und hat über eine Reihe von Einbauten neue Nutzungen erhalten. Die Holzarchitektur zeigt in großer städtebaulicher Dimension wie nachhaltiges Bauen funktioniert.

Wir sind auf der „falschen“ Seite des Kanals. Die Gare Maritime befindet sich nordwestlich des Zentrums der belgischen Hauptstadt. Um sie herum liegen viele große, alte Lagerhäuser. Am früheren Knotenpunkt des Eisenbahngüterverkehrs war das 30 Hektar große Tour & Taxis-Gelände eine Logistik- und Transportplattform, die Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut wurde und bis in die 1980er Jahre einer der bedeutendsten Warenumschlagsplätze Europas war. Alle Güter mussten durch den Zoll in der Gare Maritime, bis die Europäische Union mit dem Vertrag von Schengen das überflüssig machte. Danach standen die Hallen lange leer und wurden nur gelegentlich für Events genutzt.

Als der Immobilienentwickler Extensa die Gebäude erwarb, waren sie bereits in einem sehr schlechten Zustand. Die Umnutzung des ganzen Viertels hatte aber längst begonnen. Schräg gegenüber am Kanal entsteht ein Kulturzentrum mit dem belgischen Ableger des Centre Pompidou. Direkt neben der Gare Maritime wird ein Park angelegt und entlang des Kanals werden Apartmenthäuser errichtet. Das Quartier verändert sich derzeit rapide. Extensa ließ die alten Hallen zunächstvon Jan de Moffarts Architects möglichst originaltreu restaurieren. Danach wurden verschiedene Büros eingeladen, ihre Ideen zur Umnutzung als Büro- und Gewerbeflächen einzureichen. Neutelings Riedijk Architects überzeugten mit dem Konzept eines weitgehend offen gehaltenen Raums.

Die Gare Maritime hat enorme Ausmaße. Sieben langgezogene Dächer definieren das Gebäudevolumen. Die Konstruktion besteht aus drei größeren und vier kleineren aneinandergereihten Hallen – klein, groß in der Abfolge. Die mittlere große Halle und ihre beiden flankierenden kleinen Hallen sind komplett offen und bilden den zentralen Boulevard. Die von den Architekten neu eingefügten Volumen sind im Raster an die Seiten eingefügt. Zwischen den eingestellten Einbauten verlaufen Querachsen. Gemeinsam mit den Tragwerksplanerinnen von Ney & Partners und Bureau Bouwtechniek ist den Architekten in der EU-Hauptstadt eines der größten Projekte aus Brettsperrholz (CLT) in Europa gelungen. Wie das Holzhochhaus Sara Kulturhus von White Arkitekter in Nordschweden gibt die Gare Maritime richtungsweisend eine nachhaltige Bauweise vor. Nicht nur CO2 wurde dabei eingespart, auch die Bauphase gestaltete sich kurz: innerhalb eines guten Jahres waren die Einbauten fertig, die ersten Büros öffneten im November 2019.

Die neu eingefügte Holzkonstruktion ergänzt den aufwendig restaurierten Bestand und ist rückbaubar. Fotos: Filip Dujardin.

Die Konstruktion der Holzeinheiten besteht aus vier Ebenen, die sich nach oben hin im Umfang verkleinern. Das Gewicht lastet auf den Hauptstützen mit jeweils einer Breite von 32 Zentimetern und variabler Höhe. Die Stützen des untersten Geschosses setzen sich an gleicher Stelle an der Außenkante des nächst kleineren Geschosses fort. Anstatt eines Netzes aus Holzträgern, auf denen Balken aufliegen, sind die zehn Zentimeter breiten und 60 Zentimeter hohen Rippen mit Stahlverbindungen zwischen die Träger gespannt. Die auskragenden Bereiche werden durch eine zusätzliche oberhalb des Bodens verschraubte Rippe verstärkt. Das Brettschichtholz ist mit FSC zertifiziertem Eichenfurnier versehen worden und führt ein einheitliches Erscheinungsbild mit der durch Sandstrahlung aufgefrischten historischen Holzdecke des Bahnhofs herbei. Die großen Fenster und die Balustraden folgen einer festen Repetitionslogik. Über die Querachsen verlaufen Brücken und Treppen, die die Bauten miteinander verbinden. Sie sind das Highlight der architektonischen Gestaltung und lassen im Kleinen eine großstädtisch-verdichtete Atmosphäre aufkommen.

Eingänge an allen Seiten verbinden den Ort mit dem umgebenden Gelände, südlich mit der Rue Picard und nördlich dem entstehenden Park. An der Südfassade zur Rue Picard sind auf 17.000 Quadratmetern Solarzellen installiert. Wo einst in der zentralen Halle Gleise lagen, ist eine breite Straße aus 7.500 Quadratmetern Pflastersteinen entstanden. Das alte Kopfsteinpflaster ist in erneuerter, abgeflachter Form wieder eingesetzt worden. Darüber hinaus fungieren 350 Quadratmeter restauratorisch aufgearbeitete Quadersteine des Bestandsgebäudes nun als „Bürgersteige“. Es schließen sich Flächen mit kleinen Bäumen, Rasen und Pflanzen und dazwischen kleinere Plätze an. Jede dieser acht Plätze ist individuell gestaltet und bietet Raum für einen frei nutzbaren Kiosk.

Die neu eingefügte Architektur schränkt die Qualität der alten Struktur der Halle nicht ein, da sie sich deutlich zurücknimmt und der Raum offen erlebbar bleibt. Neues und Altes harmonisiert, aber lässt sich leicht unterscheiden. Der dekorative historische Stil, der aufgrund der gusseisernen Konstruktion – die im Zuge der Sanierung mit einem flammenhemmendem Schutzanstrich versehen wurde – damals sehr modern war, wird von Neutelings Riedijk Architects in schmückenden Details aufgegriffen. Während die Erdgeschosszone konsequent transparent ist, wird in den oberen Geschossen mehr Privatsphäre zugelassen.

Beim Eintreten in die Büros versteht man, warum die offene Halle als Außenraum gestaltet ist. Blickt man hier aus dem Fenster, erlebt man eine Art Truman-Show-Moment: Man schaut nicht in den Himmel, sondern in noch ein Dach. Der Eindruck ist jedoch wegen des Grüns, der Straße und der Außentemperatur – die Halle ist nicht beheizt – anders als bei einem Einkaufszentrum. Zu öffnende, in die alte Hallenstruktur integrierte Dachfenster sorgen für Tageslicht und für Kontakt zum Außenraum. Zu starke Sonneneinstrahlung kann abgedunkelt werden.

Das Haus-im- Haus-Konzept bietet auch Zwischenzonen wie die großzügigen Balkone, die für weiche Übergänge zwischen Büros und Hallen sorgen und als informelle Kontaktnischen dienen. Und auch klimatisch ergeben sich viele Vorteile, denn die Gare Maritime verfügt unterirdisch über eine geothermische Energieversorgung und zwei Wassertanks, die einerseits die Hallen durch Verdunstung abkühlen und zugleich der Bewässerung der Pflanzen und der Toilettenspülung dienen.

Produktinformation: Zum nachhaltigen Ansatz der Brüsseler Gare Maritime passt auch der Einsatz von GROHE Blue. Denn mit dem Wassersystem lässt sich im Vergleich zu Mineralwasser in Flaschen bis zu 61 Prozent CO2-Emissionen einsparen.

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